Kinder grossziehen ist eine schöne, aber auch anspruchsvolle Aufgabe. Erst recht, wenn die Kleinen sehbeeinträchtigt oder blind sind. Wie erkennen sie Mama und Papa? Werden sie sich eigenständig orientieren können? Ist eine normale Ausbildung realistisch?
Bei obvita kennt man diese Sorgen nur zu gut, deshalb gibt es den Eltern-Workshop, der beispielhaft aufzeigt, was alles möglich ist.
Eltern haben die grosse Aufgabe, ihren Kindern Orientierung zu geben und Eigenverantwortung zu übertragen. Für Eltern sehbeeinträchtigter oder blinder Kinder ist es dieselbe Aufgabe, nur anspruchsvoller. «Es ist wichtig, dass ihr eure Kinder verbal
begleitet und ihnen stets erklärt, was ihr seht». Sabine Schmidt von obvita schaut in die Runde: Vor ihr sitzen junge Elternpaare, die einen besonderen Weg vor sich haben.
Ihre Kinder sind noch klein, teilweise erst ein paar Monate alt, und sie wachsen mit
einer Augenkrankheit auf. Es stehen viele Fragen im Raum, die an diesem Abend eine Antwort bekommen sollen.
Sabine Schmidt führt die Eltern in die Welt der Orientierung und Mobilität (O+M)
ein. Sie erklärt ihnen, wie wichtig es ist, die Dinge immer gleich zu benennen, in geraden Linien zu denken und taktile Grundlagen zu verwenden, um Räume oder Gegenstände plastisch zu machen. Dann legt sie den weissen Stock in verschiedenen Varianten und Grössen aus; es ist das wichtigste Hilfsmittel, wenn es um Mobilität geht. Sie demonstriert, wie man ihn richtig hält, wie man mit ihm geht, welcher für Kinder geeignet ist und wofür er steht: «Alles beginnt am Stock und geht mit ihm weiter», so die O+M-Trainerin.
Von der sehenden in die blinde Welt
Noch sind viele Fragen offen, sowohl zum Thema Orientierung als auch zur Mobilität. Das wissen die Fachpersonen von obvita nur zu gut, deshalb fordern sie die Elternpaare auf, in die Welt ihrer Kinder einzutauchen. Bei der Orientierungsübung schreitet ein Elternteil mit verbundenen Augen durch die Räume, während der Partner oder die Partnerin führt. Dabei lernen sie, klar zu kommunizieren und Halt zu geben. «Diese Übung ist beeindruckend, man hat null Verständnis für Raum und Hindernisse und verlässt sich voll auf den Partner», sagt Pranvera. Ihr Sohn leidet an Albinismus, auch die Augen sind davon betroffen. Das bedeutet für ihn eine erhöhte Licht- und Blendeempfindlichkeit, zugleich ein vermindertes Sehvermögen. «Anfangs waren wir geschockt, doch man wächst in die Situation hinein», so die Mutter.
Die zweite Übung ist ein Stock-Parcours durch die Eingangshalle des Kompetenzzentrums, vorbei an Tischen, Stühlen und weiteren Hindernissen. Während der eine Elternteil mit verbundenen Augen am Stock geht, hilft der Partner oder die Partnerin mit unterstützenden Anweisungen. «Mit den Jahren lernt das Gehör, die Distanzen, Grössenverhältnisse und Raumhöhen einzuschätzen», erklärt Sehberater Virgil Desax. Er weiss, wovon er spricht, denn vor 14 Jahren erblindete er aufgrund eines Operationsfehlers. Heute bewegt sich der 35-Jährige so sicher, dass man seine Blindheit kaum bemerkt. Jetzt wollen die Fragen erst recht geklärt werden.
Ein fast normales Leben
Wie nimmt ein Kind die Stimmungen von Papa oder Mama wahr, wenn es blind ist?
Wie kann es sich draussen zurechtfinden? Was, wenn das Kind ausgegrenzt wird?
Ist eine normale Ausbildung machbar?
Virgil Desax antwortet auf jede einzelne Frage und erzählt beispielhaft aus seinem
Leben. Kurz nach seiner Erblindung absolvierte er bei obvita die kaufmännische
Berufsausbildung, Jahre später machte er extern eine Zusatzausbildung als Masseur und arbeitet heute in diesem Berufsfeld.
Auch seinen Alltag managt er gekonnt: Er geht mit seinen zwei kleinen Kindern allein durch die Stadt, malt mit ihnen in taktiler Form, betreibt Blind-Jogging, fährt Ski, geniesst Hörbücher und bedient die sprechenden Apps auf seinem Handy schneller als manch sehende Person. «Wir schulen die Betroffenen auch im Umgang mit den Sehenden», versichert Sabine Schmidt. Gleichzeitig verdeutlicht sie nochmals, dass dank der vielen Hilfsmittel und Sehberatung alles möglich sein kann – trotz Sehbeeinträchtigung oder Blindheit. Genauso wertvoll ist der Austausch unter den Eltern, um die eigenen Erfahrungen zu teilen, und so bleiben am Ende des Workshops alle noch ein Weilchen. Sie erzählen sich von ihren Hürden und Erfolgen, tauschen Handynummern aus und bestärken sich gegenseitig. «Der heutige Einblick in die nicht-sehende Welt hat mir die Augen geöffnet und Mut gemacht», sagt denn auch Diana, die Mutter eines betroffenen Babys.